Feedback // Erfahrungen

I
Ich habe vergangene Woche 2 Personen interviewt:

Käthe Pittasch, 67 Jahre, ehem. Augenärztin.
Sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass in der Augenklinik Betten aufgestockt wurden. Zudem mussten sie sich auf Tränengas-Verletzte vorbereiten. Da noch niemand in der Klinik Erfahrungen damit hatte, rief sie einen General an, der ihr Behandlungsmethoden und Medikamente beschrieb. Sie wohnte damals in Grünau, kam aber immer von Arbeit (in der Liebigstraße 14) zur Demo gelaufen. Viele Kollegen sind demonstrieren gegangen, das wurde nich verheimlicht. Seit 1991 wohnt sie im Ringgebäude, damals ein Haus für Priveligierte, auch "Bonzenschleuder" genannt (leider laufen wir bei unseren Walks daran nicht vorbei...).

M. Gehre, 50 Jahre, Wissenschaftler (Physiker) am UFZ.
Für den Ernstfall war immer vorgesorgt: Die Kinder wurden zu den Großeltern geschafft, seine Frau sollte nicht mitlaufen, damit nicht evtl. beide gleichzeitig festgenommen werden und die Kinder ohne Eltern sind. Er hatte ein paar Tage/Wochen voor dem 9. Oktober beobachtet, wie Polizisten die Demonstranten über einen Platz trieben, mit Wasserwerfern auf sie zielten. Herr Gehre hat seinen Kollegen (damals arbeitete er in der Akademie der Wissernschaften, Permoserstraße) nicht gesagt, wo er nach der Arbeit hinging. "Man fuhr auch nicht pünktlich 18 Uhr dort hin, sondern 15 Minuten eher und hielt sich vorher unauffällig in Kaufhäusern auf. In Leipzig konnte man sich außerdem wunderbar in den dunklen Passagen vor Polizisten verstecken."
Er ist immer noch ein sehr engagierter Mensch: Betriebsratsvorsitzenmder, geht noch immer zu Demos, u. a. gegen den Irak-Krieg und Hartz IV.

Es gab viele Gemeinsamkeiten in ihren Erzählungen: So beschrieben beide die Runde Ecke als "Angstpunkt", Käthe wollte dort lieber nicht innen (also auf der Seite des Stasi-Gebäudes) laufen. Außerdem waren ihre Gründe für die Teilnahme ähnlich: Ärger über Gängelung, schwierig zu meisternden Alltag, fehlende Rede- und Meinungsfreiheit, Reisenbeschränkungen. Zudem litten sie (psychisch) unter der zusehends verfallenden, grauen und oft ruinösen Architektur Leipzigs und (physisch) unter der hohen Luft- und Wasserverschmutzung.

II
Ich habe mich an eine Haltestelle am Gördelerring (vor der Blechbüchse) aufgehalten.
Auffallend war die große Menge an Schrift: Werbebotschaften ("Original Käse-Maik"), unzälige Abkürzungen ("LVB", "LBS", "GEK"), beschriftete Häuser ("Hotel Fürstenhof", "Naturkundemuseum"), sogar die Pullover der Leute waren mit Lettern versehen. Alle Orte, Gebäude, Räume sind markiert und als jemanden zugehörig definiert.

Der Ort war eigentlich bloßer Transitraum: Menschenmassen (die Statisten?) werden von den Bahnen von A nach B getragen. Man hält sich dort nur auf, um wegzufahren. Die Wartenden können nicht einfach nur "warten", sondern lenken sich permanent ab: Das Handy wird kontrolliert oder man telefoniert, hört Musik mit dem MP3-Player, oder liest in einem Buch. Man hält einen gewissen Sicherheitsabstand zum Nachbar ein (mindestens einen Meter).

Die Architektur/Stadt erzählt an diesem Ort viel: Die Reformierte Kirche, ein Messepalast aus den 60er Jahren, das ehemaligfe Karstadt-Kaufhaus (Blechbüchse), das derzeit ohne Aluhülle steht und den Blick auf die teilweise erhaltene Fassade des ursprünglichen Kaufhauses zulässt, die große Brachfläche, wo sich bis vor einem Jahr drei Wohnscheiben befanden (eine ziemlich markantes und gelungenes städtebauliches Ensemble) und wo bald ein riesiger Einkaufstempel gebaut wird.

Die Straßengeräusche schwellen langsam auf und ab, die Ampel kontrolliert den Soundtrack, dazu das Quietschen und Surren der Straßenbahnen, das Piepen der Türen. Dazwischen Stille.

III
Ich erinnere mich an ein gewisses Gefühl von Peinlichkeit, asl wir mit den Schildern, als Mini-Demo, durch die Innenstadt gelaufen sind. Besonders in den Momenten, in denen ich vorn lief, also "ungeschützt" durch die anderen, weshalb ich mich automatisch näher bei dem Rest der Gruppe aufhielt. Interessant war es, dass einige Menschen sich ermuntert gefühlt hatten, uns zu sagen, dass ihnen auch einiges nicht passt ("Das ist so viel, das würde gar nicht auf so ein Schild passen.").
Die Straßenverschönerung durch Kreide (besonders bei dem Zaun, der um die Brache aufgestellt ist) ist auf jeden Fall ein sehr kommunikatives Element (Menschen bleiben stehen, schauen, fragen etc.).
Am intensivsten empfand ich das laufen mit verschlossenen Augen. Ich habe vieles stärker wahrgenommen: Gerüche (Kaugummi, Parfüm), der irritierende Wechsel von Licht und Schatten, Geräusche, die plötzlich viel näher und lauter (und dadurch beängstigender) wirkten, die Hände meines Vor- und Nachgängers (mit all den Konsequenzen an diesem warmen Tag...). Es hat Überwindung gekostet, sich auf seinen Vorgänger zu verlassen.
Was leider gar nicht funktioniert hat, war die Aktion mit dem Lied in der Straßenbahn. Wir dachten vorher, es sei eine hübsche Sache, um ein Gemeinschaftsgefühl im ganzen Waggon zu erzeugen. Aber nee, so spontan sind die Menschen nicht...Ich habe gemerkt, dass man selbst um so lauter singt, je weniger mitsingen (um sich selbst Mut zuzusingen!?). Überhaupt sind die meisten Passanten nicht sehr spontan. Niemand wollte teilnehmen (z. B. am Spiel). Aber vielleicht hätten wir nur länger bleiben sollen.

Juliane Richter

1 Kommentar:

  1. BEOBACHTUNG
    Standpunkt:
    Ecke Nikolaikirche, mit Blick auf Alte Nikolaischule/Motel/Straßenkreuzung
    Zeitpunkt:
    17.15-17.35Uhr
    Wetter: stark bewölkt, Nieselregen

    - live Musik (Akkordeonspieler, mit immer den gleichen, bekannten Melodien)
    - zentraler Punkt = Brunnen (alle gehen an ihm vorbei, berühren mind. die Wasserfläche oder sprechen über den Brunnen("Alex, brauchste Geld, dann kannste da drinne schwimmen gehn."))
    - alle 10 Minuten kleine Reisegruppen (bis zu 20Personen) mit Stadtführer
    - farblich sehr trist, kaum auffällige Farbgebungen an Häusern, Leuten oder Plakaten (Ausnahme: Parkauseinfahrt - je nach dem rot oder grün leuchtend ob das Parkaus voll ist oder noch Parkplätze übrig sind)
    - ein 'Penner' saß die gesamte Zeit über am Brunnen und beobachtete ebenfals die Passanten

    Auffälligkeiten:
    - kaum Kinder unterwegs
    - wenn Kinder, dann in Begleitung von der ganzen Familie oder von Vätern, aber nicht allein mit Müttern

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